Der vom Sinn "entkernte" Mensch
"Dagegen" – der neue Lyrikband von Hartmut Brie

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Lyrik von Hartmut Brie. Foto: Flier


MÜLLHEIM (fl). "Gedichte haben etwas Unvollständiges an sich. Sie lassen viele Fragen zu und offen." Mit diesen Worten eröffnet der ehemalige Universitätsdozent und Afrikakenner Hartmut Brie seinen fünften Lyrikband, der den provozierenden Titel "Dagegen" trägt. Das Wort Betroffenheit, das durch seinen inflationären Gebrauch – nicht zuletzt im Journalismus – anrüchig geworden ist, gewinnt in diesen dichterisch-dichten Miniaturen eine neue Frische und Lebendigkeit. Es geht darin um den vom Lebenssinn "entkernten" Menschen, um gebrochenen Widerstand und zerbrochene Würde, um den vergeblichen Versuch des Individuums, sich eine heile Welt zu schaffen: Wahrhaftig ein "absurdes Unterfangen" und eine Lebenslüge, die nur noch in eine "Reststille" einmünden kann. Es geht aber auch um die Nachhaltigkeit von Widerstand, um den unstillbaren "Hunger nach Wandel" – allerdings nicht den Wandel, mit dem die Globalisierung die Menschheit beglücken will. Von "Mitfühlen" ist da die Rede, von Lebenskraft, die direkt aus dem Urschrei entspringt, ja, gar vom Glauben. Ist Gott nicht "in aller Munde"? Sind nicht viel zu viele Hände aufgehalten "hin zum Erbarmen"? Und sind Gebete wirklich leer, liegt nichts in ihnen als die "Last von Bürden?".

An Konfliktstoffen und offenen Fragen mangelt es wirklich nicht in diesem "Dagegen", das in Wahrheit auch ein "Dafür" darstellt. Wofür, diese Frage muss der Leser letztlich selbst beantworten. Brie lässt in seiner Lyrik keinen Raum für selbstverliebtes Gutmenschentum, auch nicht für Mythen, auch wenn sie gerade Hochkonjunktur haben wie der Kult der Großen Mutter. Ein hartes Buch, das erschreckt, in das aber auch immer wieder zärtliche Worte eingestreut sind, Gedanken, die Hoffnung machen.

Die Magie der Illustrationen von Miro Niklewicz ist nicht weniger stark als der Zauber von Bries Lyrik. Manchmal ist es die Schwarze Magie des schieren Horrors, wenn gespenstische Abbilder von Menschen, die scheinbar jede Menschlichkeit verloren haben, in einem grässlichen Danse macabre aus den Seiten herauszutanzen scheinen. Manchmal zeigen die Bilder auch nichts als die reine Verletzlichkeit ihrer Objekte, und diese Illustrationen berühren am meisten, da ihre Skurrilität das Makabre ihres Wesens subtil überhöht und den Betrachter nicht loslässt.
Erschienen im Wiesenburg Verlag, ISBN 978-3-942063-55-5, Preis 17,50 Euro.

27. Dezember 2010
Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der
Badischen Zeitung.
von: Bianca Flier

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22. Dezember 2010
Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe von Die Oberbadische
von: Bianca Flier

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